Frau Gatter, vor 30 Jahren haben die Deutschen ihre Wiedervereinigung gefeiert. Wissen Sie noch, wie Sie den Tag verbracht - und was Sie sich damals erhofft haben?
Ich erinnere mich vor allem an die Montage mit den Demonstrationen 1989 und Anfang 1990. Über die Maueröffnung hat mich eine Freundin am Telefon informiert. Ich wollte es nicht glauben, so lange ich lebte, gab es die Mauer! Meine Hoffnung war, dass alles friedlich bleibt. Ich konnte lange nicht fassen, dass die "bewaffneten Organe der DDR" nicht eingriffen.
Sie kennen die Caritasarbeit noch vor 1990. Auch für die Caritas in den ostdeutschen Bistümern hat sich danach einiges verändert. Ist der Neustart gelungen?
Wieso Neustart? Wir mussten durchstarten! Wir wollten und mussten uns ganz schnell auf das neue (Sozial-) Rechtssystem einstellen, um den Menschen weiterhin helfen zu können.
Was hätte anders, vielleicht auch besser laufen können?
Ich denke, wir haben das ganz gut hingekriegt. Wir, auch gemeinsam mit anderen Wohlfahrtsverbänden, konnten viel aufbauen. Gerade die kirchlichen Einrichtungen und Mitarbeitenden wurden als unbelastet (Stasi) und kompetent erlebt. Gut war auch, dass wir mancher Verlockung (Übernahme kompletter sozialer Einrichtungen) widerstanden und sie nicht übernommen haben.
Es gibt Stimmen, die insbesondere die zunehmende Ökonomisierung der sozialen Arbeit in Deutschland kritisieren?
Transparenz und Sparsamkeit in der Verwendung finanzieller Mittel sind erstmal gut und notwendig. Auch unsere Konzepte sollten klar sein. Wenn jedoch Dokumentations- und Verwaltungsvorschriften so viel Kraft binden, dass für die hilfesuchenden Menschen wenig bleibt, läuft was verkehrt. Ich würde sagen: Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser!
Wie müssen sich Kirche und ihre Caritas in Zukunft aufstellen, um glaubwürdig zu bleiben?
Dahin gehen, wo es wehtut! Kirche muss bei den Menschen sein. Wir müssen die Armen unserer Stadt kennen. Wir müssen uns mit Benachteiligten und Ausgegrenzten solidarisieren. Wir müssen uns politisch einmischen und für gute Lösungen und Entwicklungsmöglichkeiten einsetzen.
Ein wichtiger Pfeiler in der Caritasarbeit ist das Ehrenamt. Wie kann es gelingen, dass sich auch heute junge Leute für die Caritas engagieren?
Ehrenamtliches Engagement ist was für jedes Alter! Wir müssen Gelegenheiten zum Mitmachen und Ausprobieren schaffen. Und wir müssen für gute Rahmenbedingungen sorgen.
Fragen: Andreas Schuppert